„Ich will mich noch ausprobieren“ – Wenn ein Partner plötzlich eine offene Beziehung will

Welche Auswirkungen es für die Beziehung hat, wenn ein Partner eine offene Beziehung vorschlägt, erfährst du in diesem Artikel am Beispiel von Peter und Claudia (Namen geändert).

Zwischen Öffnung und Ohnmacht

Als Peter den Wunsch äußerte, eine offene Beziehung zu führen, war Claudia zunächst wie betäubt. Für sie war er ihr Ein und Alles. Nicht im kitschigen Sinne, sondern als emotionales Zuhause. Der Mensch, zu dem sie zurückkam, egal, wie stürmisch das Leben draußen war.

Der Gedanke, dass er mit anderen Frauen intim werden könnte, fühlte sich für sie an, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen, aber höflich darum bitten, dabei bitte aufrecht zu bleiben.

„Ich bin doch nicht prüde. Aber ich versteh’s nicht. Warum reicht ihm das, was wir haben, nicht mehr?“ fragte sie in der Sitzung. Peter hingegen sprach immer wieder von seiner „eingeschlafenen Seite“ und von der Abenteuerlust, die er jahrelang unterdrückt habe.

„Ich habe die wilden Jahre übersprungen. Familie, Treue, Sicherheit – das war alles richtig. Aber ein Teil von mir hat geschlafen. Und jetzt will ich wissen, wie er sich anfühlt, wenn er wach ist.“

Er wollte nicht gehen, sondern bleiben. Nur eben… offener. Eine offene Beziehung statt einer Trennung. Freiheit statt Heimlichkeit. Ein ehrenwerter Versuch, ein explosiver Vorschlag.

Therapeutische Realität: Die große Kommunikationsbaustelle

In der ersten Sitzung redeten die beiden kaum miteinander. Und wenn doch, dann aneinander vorbei. Sätze prallten ab wie Bälle an einer Wand, jeder fing nur das auf, was ins eigene Bild passte. Und ganz ehrlich: Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Die wenigsten Paare haben gelernt, wirklich zuzuhören.

Was stattdessen passiert: Man hört zu, um zu antworten, nicht, um zu verstehen. Die Gedanken sind schon bei der eigenen Erwiderung, während der andere noch spricht. Und wenn es emotional wird, schaltet das Nervensystem auf Angriff oder Rückzug: fight or flight.

Deshalb ist mein erster Schritt in der Paartherapie fast immer derselbe: Kommunikation neu lernen. Zuhören ohne Verteidigung – nicht, um sofort zu rechtfertigen. Spiegeln ohne Ironie. Die Worte des anderen zurückgeben, ohne sie zu verzerren. Sprechen ohne Schuldzuweisung: die eigene Perspektive teilen, ohne den anderen anzugreifen.

Klingt einfach, ist es aber nicht. Vor allem nicht, wenn es um Sexualität, Verlustangst und das Gefühl geht, plötzlich nicht mehr „genug“ zu sein.

Claudias mutiger Versuch und die neue Schieflage

In den Wochen danach kam es zu einem überraschenden Wendepunkt: Claudia beschloss, sich zumindest auf neue gemeinsame sexuelle Erfahrungen einzulassen. Nicht, weil sie unbedingt Lust auf Tantra, Toys oder Fesselspiele hatte, sondern weil sie nicht verlieren wollte, was sie 25 Jahre lang aufgebaut hatten.

Sie hoffte, dass durch die Erweiterung des gemeinsamen Repertoires wieder Nähe entstehen würde. Dass Neugier das Bedürfnis nach Freiheit ersetzen könnte.

Und Peter? Der machte mit. Doch es war spürbar: Er spielte nicht mit offenen Karten. Gedanklich und emotional war er schon ein paar Schritte weiter.

„Ich will wissen, wie es ist, wenn ich nicht nur mit Claudia verbunden bin. Ich will mich frei erleben.“
„Ich habe das Gefühl, ich war 25 Jahre lang angepasst. Jetzt will ich endlich ganz ich sein.“

Die Asymmetrie der Sehnsucht

offene Beziehung

Solche Dynamiken sind hoch brisant – weil sie ein Machtgefälle schaffen: Einer will mehr, der andere muss sich entscheiden, mitzugehen oder zurückzubleiben.

Ich nenne das in der Paartherapie die Asymmetrie der Sehnsucht. Der eine sucht Erweiterung, der andere Erhalt. Der eine testet Grenzen, der andere hält fest.

Was dabei oft übersehen wird: Sich auf neue sexuelle Praktiken einzulassen, obwohl man innerlich nicht mitgeht, ist kein Fortschritt, sondern ein schleichender Selbstverrat.

Gleichzeitig ist die Sehnsucht nach Freiheit nicht automatisch egoistisch. Sie kann auch ein Ruf nach Selbstverwirklichung sein – und eine Chance, in Beziehung neue Formen der Nähe zu finden. Aber das braucht Zeit. Und ehrliche Kommunikation.

Gesellschaftlicher Kontext: Warum dieses Thema häufiger wird

Offene Beziehungsmodelle sind kein Randphänomen mehr. Dating-Apps, Social Media und eine veränderte Sexualmoral schaffen neue Möglichkeiten und neue Versuchungen. Gleichzeitig steigt der gesellschaftliche Druck, sich selbst zu „verwirklichen“.

Für viele Paare ist die offene Beziehung ein Versuch, Freiheit und Bindung zu vereinen. Doch dieser Versuch scheitert oft daran, dass Freiheit nur für einen Teil des Paares real ist, während der andere sie als Verlust erlebt.

Warum die Theorie so oft an der Praxis scheitert

In der Theorie klingt es für viele verlockend: absolute Ehrlichkeit, keine Heimlichkeiten, die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse frei zu leben. Doch was Paare häufig unterschätzen, ist die emotionale Realität dahinter.
Eifersucht lässt sich nicht wegdiskutieren. Auch nicht mit Vereinbarungen, die auf dem Papier gut klingen.

Gefühle sind nicht linear, und selbst der verständnisvollste Partner kann in einem Moment von Panik oder Schmerz überrollt werden, wenn die Realität eintritt.

Studien zeigen, dass Paare, die eine offene Beziehung beginnen, oft unterschätzen, wie sehr der Selbstwert daran geknüpft ist, „der oder die Einzige“ zu sein. Wenn dieses Alleinstellungsmerkmal wegfällt, muss die Beziehung neue Formen der Sicherheit entwickeln – und das ist harte Arbeit.

Die unterschätzte Rolle des Alltags

Interessanterweise scheitern offene Beziehungsmodelle oft nicht an den sexuellen Kontakten selbst, sondern an den vielen kleinen Alltagssituationen:

  • Wer ist an welchem Abend wo?
  • Wie viel Zeit bleibt noch füreinander?
  • Wer erzählt wem was – und was lieber nicht?

Diese Mikro-Entscheidungen können zu einem schleichenden Gefühl der Entfremdung führen, wenn sie nicht transparent und respektvoll besprochen werden.

Emotionale Grundbedürfnisse bleiben bestehen

Selbst in einer offenen Beziehung brauchen Menschen Sicherheit, Zugehörigkeit und Wertschätzung. Wenn diese Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, helfen auch keine Freiheiten. Dann wird die Öffnung eher zum Brandbeschleuniger für bestehende Probleme.

Bindungstypen und emotionale Reaktionen

Auch der Bindungstyp spielt eine Rolle:

  • Menschen mit einem sicheren Bindungsstil können Veränderungen leichter integrieren, ohne das Gefühl zu haben, verlassen zu werden
  • Ängstlich-ambivalente Partner erleben offene Beziehungswünsche schnell als existenzielle Bedrohung
  • Vermeidend-gebundene Partner neigen dazu, Nähe und Distanz zu steuern, um ihre Unabhängigkeit zu sichern

Das zu verstehen, kann helfen, die Reaktionen des anderen nicht nur als „Übertreibung“ oder „Gefühlskälte“ zu sehen, sondern als tief verankerte Beziehungsmuster.

Impulsfragen zur Selbstreflexion

  • Möchte ich zustimmen, um den anderen nicht zu verlieren, oder weil es wirklich zu mir passt?
  • Ist mein Wunsch nach Freiheit eine Flucht vor etwas, das ich in der Beziehung nicht ansprechen will?
  • Was bedeutet Treue für mich und ist das verhandelbar?
  • Welche Gefühle tauchen in mir auf, wenn ich mir vorstelle, mein Partner hat Intimität mit jemand anderem?

Therapeutische Möglichkeiten

In der Praxis arbeiten wir zunächst daran, eine gemeinsame Sprache zu finden. Nicht nur für Wünsche, sondern auch für Grenzen.

Oft klären wir:

  • Welche Vereinbarungen sind möglich?
  • Was ist ein absolutes No-Go?
  • Welche Gefühle müssen wir lernen auszuhalten, ohne sofort zu handeln?

Manche Paare entdecken dabei neue Seiten aneinander. Andere erkennen, dass ihr Fundament zu brüchig ist. Beides ist eine Form von Entwicklung und beides kann Würde haben.

Erfahrungen aus der Praxis

In meiner Arbeit habe ich Paare erlebt, bei denen die Öffnung der Beziehung zu einer neuen, lebendigen Nähe geführt hat. Nicht, weil alles einfach war, sondern weil beide den Weg bewusst und in kleinen Schritten gegangen sind. Sie haben Ängste ausgesprochen, Regeln gemeinsam entwickelt und diese immer wieder überprüft.

Ich habe auch Paare begleitet, bei denen die Öffnung zu einer schleichenden Entfremdung geführt hat. Nicht die sexuellen Kontakte selbst waren das Problem, sondern das Gefühl, innerlich nicht mehr mitzuhalten. Misstrauen, Rückzug und fehlende Gespräche machten das Fundament brüchig.

Und es gibt Paare, die eine Öffnung ausprobiert und dann bewusst wieder verworfen haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie in einer exklusiven Beziehung glücklicher sind – diesmal mit einem besseren Verständnis füreinander und klareren Absprachen.

Was all diese Wege zeigen: Es gibt nicht den einen richtigen Weg, der für alle passt.

Jede Beziehung ist anders. Entscheidend ist nicht, ob man „offen“ oder „geschlossen“ lebt, sondern wie ehrlich, achtsam und respektvoll man diesen Weg gemeinsam geht und ob beide sich in der Vereinbarung wiederfinden.

Lesetipp: Sich selbst finden und trotzdem nie ankommen

Fazit: Offene Beziehung? Vielleicht. Aber nicht ohne offene Herzen.

Offene Beziehungen können funktionieren, aber nicht als Reparaturversuch für geschlossene Kommunikation. Wer Freiheit sucht, sollte bereit sein, den Schmerz des anderen mitzuerleben. Wer festhält, muss fragen: Halte ich an der Liebe fest, oder an ihrer Idee?

Nicht jede Beziehung lässt sich „retten“ und manchmal ist das auch gar nicht das Ziel. Therapie bietet nicht nur eine Brücke zur Nähe, sondern auch einen Raum, um eine faire Trennung zu gestalten. Eine Trennung, die Platz schafft für neue Realitäten und vielleicht für eine reifere Art, verbunden zu bleiben.

Denn Beziehung beginnt nicht immer dort, wo alles funktioniert, sondern oft dort, wo zwei Menschen beginnen, sich wieder wirklich zuzuhören. Oder den Mut finden, sich ehrlich zu verabschieden.

Vielleicht stehst du gerade selbst vor einer Entscheidung, die keine einfachen Antworten kennt.
In meiner Praxis begleite ich Paare und Einzelpersonen dabei, Klarheit zu finden. Ob für einen neuen Weg miteinander oder für einen respektvollen Abschied.

Wenn du dir einen sicheren Raum wünschst, um deine Gedanken und Gefühle zu sortieren, melde dich gern.
Gemeinsam finden wir heraus, was für dich stimmig ist – mit Mut, Offenheit und ohne vorschnelle Urteile.

Alles Liebe und bis zum nächsten Mal

Deine Anja

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